John-Dylan Haynes
Hirnforschung: Der unbewusste Wille
Von Ulrich
Schnabel Die Zeit, 17. April 2008
Redaktion Andy Ross
JJohn-Dylan Haynes arbeitet im Berliner Bernstein Zentrum für Computational
Neuroscience schon über ein Jahr. Der 37-jährige deutsch-britische Professor
hat im Fachblatt Nature Neuroscience eine Studie veröffentlicht, die
vermutlich die Debatte um den freien Willen mächtig anheizen wird.
Anhand der Aktivität zweier Hirnregionen kann Haynes voraussagen, ob
Versuchspersonen einen Knopf mit der linken oder rechten Hand drücken
werden. Und diese Aktivität beginnt, zehn Sekunden bevor die Probanden sich
bewusst entscheiden!
Gibt es also tatsächlich keinen freien Willen?
Entscheidet das Gehirn quasi an unserem Bewusstsein vorbei? So einfach macht
es sich Haynes nicht. »Wenn es manchmal heißt: ›Mein Gehirn hat so und so
entschieden, ich kann nichts dafür‹, dann ist das Quatsch«, ärgert sich
John-Dylan Haynes.
Der Kognitionspsychologe hat etwas getan, was
längst überfällig war: mit modernen Methoden jenes berühmte Experiment von
Benjamin Libet fortzuführen, das seit über zwanzig Jahren die Debatte um den
freien Willen prägt. »Es ist mir schleierhaft, warum es zu einem so
zentralen Experiment nicht viel mehr Forschungsarbeiten gab«, sagt er.
Am Leipziger Max-Planck-Institut für Kognitions- und
Neurowissenschaften, an dem er noch immer eine Arbeitsgruppe leitet, ging er
der Entscheidungsfindung trickreich auf den Grund. Während seine Probanden
in einem Kernspintomografen lagen, sollten sie sich entscheiden, entweder
mit der linken oder der rechten Hand einen Knopf zu drücken. Damit sie sich
den Zeitpunkt dieser Entscheidung merken konnten, zeigte ihnen Haynes
schnell wechselnde Bilder mit verschiedenen Buchstaben. Die Probanden
sollten sich denjenigen Buchstaben merken, der zum Zeitpunkt der
Entscheidung gerade eingeblendet war.
Gleichzeitig suchten Haynes und
seine Kollegen nach jenen neuronalen Aktivitätsmustern, die mit der
Entscheidung in Verbindung standen. »Das ist mit einer
Mustererkennungs-Software, wie man sie heute zur Identifikation von
Fingerabdrücken nutzt, durchaus möglich«, erklärt der Hirnforscher. Mit
Hilfe einer aufwendigen statistischen Analyse lassen sich die Daten aus dem
Kernspintomografen sehr genau interpretieren.
In Haynes’ Studie
förderte die Mustererkennung zunächst zwei Hirnbereiche zutage, in denen die
Entscheidung vorbereitet wurde (das Brodmann-Areal 10 im frontopolaren
Kortex und eine Region im parietalen Kortex). Aus den Aktivitätsmustern
dieser Areale ließ sich mit einer 60-prozentigen Wahrscheinlichkeit
ableiten, welchen der beiden Knöpfe eine Versuchsperson später drücken wird
– und zwar bereits sieben Sekunden bevor die Versuchsperson eine bewusste
Entscheidung traf!
Hinkt das Bewusstsein also um sieben Sekunden
hinterher? Nein, um noch viel mehr. »Der Kernspintomograf zeigt die
Hirnaktivitäten mit einer Verzögerung von drei bis vier Sekunden«, erklärt
Haynes, »tatsächlich also sind diese Areale bereits etwa zehn Sekunden
aktiv, bevor die Entscheidung als bewusst erlebt wird.«
Doch wie
überzeugend ist eine Wahrscheinlichkeit von 60 Prozent, die nur knapp über
einem Zufallstreffer von 50 Prozent liegt? »Das ist ein Wert, der über alle
14 Probanden gemittelt ist«, antwortet Haynes. »Wenn wir uns auf den
Einzelfall konzentrieren, können wir eine viel höhere Wahrscheinlichkeit
erreichen. Doch um die Vorhersageleistung ging es in diesem Experiment ja
gar nicht. Entscheidend war der Zeitpunkt, zu dem diese Aktivität beginnt.«
So leicht lässt sich an Haynes’ Ergebnis nicht rütteln. Der Befund von
Libet ist damit nicht nur bestätigt, sondern sogar noch mächtig verschärft:
Das Gehirn wird nicht erst 0,3, sondern volle 10 Sekunden vor einer als
bewusst erlebten Entscheidung aktiv.
»Ich interpretiere unsere Studie
so: Eine Kaskade von unbewussten Prozessen fängt an, eine Entscheidung
vorzubereiten, lange bevor diese ins Bewusstsein dringt«, sagt Haynes.
Unsere Gedankentätigkeit sei mit einem Eisberg vergleichbar. »Was uns
bewusst wird, ist nur dessen Spitze. Neunzig Prozent liegen unter Wasser –
das sind die unbewussten Prozesse in unserem Gehirn.«
»Alle unsere
Handlungen sind die Überlagerung von Tausenden von kleinen Ursachen –
Erfahrungen in Kindheit und Beruf, unsere Kultur, die Menschen, mit denen
wir uns umgeben, die Medien, die wir zurate ziehen, und so weiter«,
argumentiert Haynes. So gesehen sei keine Entscheidung zufällig.
Haynes argumentiert ähnlich wie der Philosoph Peter Bieri, der klarstellte:
Der sogenannte freie Wille sei letztlich immer der »verstandene Wille«,
jener, der zu unserem Selbstbild und in das Profil unserer Wünsche passe.
Und dass diese Beschränkung sich auch in den Grenzen unseres Gehirns
abspielt, ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit.
Libet meinte,
dass wir uns bei Bedarf auch umentscheiden könnten. »Das hat Libet zwar
behauptet, aber nicht bewiesen«, sagt Haynes. Deshalb will er sein
Experiment künftig ergänzen. Er will die Kernspin-Daten innerhalb weniger
Sekunden interpretieren. Meldet ihm sein Programm, ein Proband habe sich
unbewusst für die rechte Hand entschieden, will er ihn vor dem Knopfdruck
rasch bitten, die linke zu benutzen. Dann wird sich zeigen, ob dieser sich
wirklich noch umentscheiden kann.
Fühlen, um zu erkennen
Von Peter
Bieri Die Zeit, 30. August 2007
Redaktion Andy Ross
Bewusstsein ist ausschlaggebend dafür, dass wir uns als Subjekte erfahren.
Damit ist es entscheidend für all die Dinge, die uns als Subjekte betreffen:
eine seelische Identität über die Zeit, die Ausbildung eines Selbstbilds,
Anerkennung und Respekt von den Anderen, Verantwortung für unser Tun.
Zugleich sind wir biologische Systeme. Um ein solches System in seinem
Aufbau und seiner Funktionsweise zu erforschen, brauchen wir nicht über sein
Erleben nachzudenken. Es geht um anatomische Strukturen, funktionale
Zusammenhänge, Stoffwechselvorgänge, elektrische Aktivitätsmuster. Worauf es
hier ankommt, ist Objektivität. Für das Erleben dagegen ist wesentlich, dass
es sich in dem, was es ist, nur dem Subjekt selbst ganz erschließt: Ich muss
den Schmerz und die Angst fühlen, um sie vollständig zu kennen.
Erleben und biologisches Geschehen sind nicht unabhängig voneinander: Nichts
geschieht im Erleben, ohne dass sich auch im Körper etwas verändert, und
bestimmte biologische Vorgänge erzwingen eine Veränderung im Erleben. Davon
geht jeder aus, der Alkohol trinkt oder ein Aspirin nimmt. Wir alle sind in
diesem Sinne minimale Materialisten. Es ist vor allem das Geschehen im
Gehirn, das wir kennen müssen, um unser Erleben zu verstehen.
Stellen
wir uns nun ein menschliches Gehirn vor, das maßstabgetreu so weit
vergrößert wäre, dass wir in ihm umhergehen könnten wie in einer riesigen
Fabrik. Wir machen eine Führung mit, denn wir möchten wissen, woran es
liegt, dass der entsprechend vergrößerte Mensch, dem das Gehirn gehört, ein
erlebendes Subjekt mit einer Innenperspektive ist. Der Führer erklärt uns
den Aufbau der Nervenzellen, die schwindelerregende Vielfalt der
Verbindungen, die Chemie der Botenstoffe und das Muster der Gehirnströme.
Wir können uns ohne Weiteres vorstellen, dass hier drin alles genau so
wäre, wie es ist, ohne dass der Mensch auch nur den Schatten eines
Erlebnisses hätte. Nichts von dem, was uns gezeigt worden ist, scheint es
notwendig zu machen, dass da einer etwas erlebt: nicht die Art des
Materials, nicht die Architektonik der Fabrik, nicht die chemischen
Reaktionen, nicht die elektrischen Muster.
„Es ist eine
Gesetzmäßigkeit der Natur“, sagt der Führer, „dass dann, wenn hier drin
etwas geschieht, der Mensch bestimmte Dinge erlebt.“ Er hat unser Problem
nicht verstanden. Wie können all die öffentlich zugänglichen Dinge hier drin
etwas hervorbringen, das nur das erlebende Subjekt selbst wirklich kennen
kann? Wie kann etwas, dessen Existenz ein erlebendes Subjekt verlangt, von
etwas erzeugt werden, bei dem das nicht gilt?
Ein System als Ganzes
hat oft Eigenschaften, die sich an den Teilen nicht finden. Aber das
ehemalige Rätsel des Lebens und das Rätsel des Bewusstseins sind nicht
vergleichbar. Das Vertrackte an Bewusstsein ist gerade, dass diese ganze
Betrachtungsweise die Lücke des Verstehens nicht zu schließen vermag, denn
sie ist noch von ganz anderer Art.
„Alle Erklärungen hören doch
irgendwann auf“, sagt der Führer. Im Alltag wundern wir uns nicht, dass das
Aspirin den Schmerz vertreibt und der Alkohol die Stimmung hebt. Etwas ist
nur rätselhaft vor dem Hintergrund bestimmter Erwartungen des Erklärens und
Verstehens. Solche Erwartungen können berechtigt oder unangebracht sein.
Wir lassen den Blick durch die Gehirnfabrik schweifen. Nirgendwo in
diesem gigantischen Uhrwerk gibt es eine kausale Lücke, die ein privates
Erleben erforderte, damit es weiterläuft. Bedeutet das nicht, dass unser
Erleben zwar wirklich, aber wirkungslos ist? Wir wären nur zum Schein
erlebende Subjekte, die über ihr Leben bestimmen.
Wir könnten die
kausale Macht des Erlebens erst dann beweisen, wenn es uns gelänge, seinen
inneren Zusammenhang mit dem physiologischen Geschehen verständlich zu
machen. Und deshalb ist es so beunruhigend, wenn sich die Lücke des
Verstehens nicht schließen lässt.
Haben wir den subjektiven Charakter
des Erlebens falsch beschrieben? Bewusstsein mystifiziert? Haben wir das
Entscheidende am Gehirn noch nicht verstanden? Was machen wir falsch?
Unser Wille ist frei
Von Peter Bieri Der Spiegel, 10. Januar 2005
Redaktion Andy Ross
Es gehört zu unserem Selbstverständnis, dass wir uns in unserem Tun und
Wollen als frei erfahren. Wir erleben uns als Urheber unseres Handelns. Es
müsste uns verstören, wenn sich herausstellte, dass diese Freiheitserfahrung
nichts weiter ist als eine hartnäckige Illusion.
Nun scheint es
manchen heute so, als zeigte die Hirnforschung genau das. Sie lehrt uns,
dass es für alles Wollen und Tun neuronale Vorbedingungen gibt. Es scheint
so, dass unser Wollen und Tun keineswegs aus Freiheit geschieht, sondern als
Folge eines neurobiologischen Uhrwerks, das unbeeinflussbar hinter unserem
Rücken tickt.
In Wirklichkeit folgt aus der Hirnforschung nichts
dergleichen. Was wie eine beinharte empirische Widerlegung der
Willensfreiheit daherkommt, ist ein Stück abenteuerliche Metaphysik.
Betrachten wir ein Gemälde. Wir können es als einen physikalischen
Gegenstand beschreiben. Wir können aber auch vom dargestellten Thema
sprechen. Oder es geht uns um Schönheit und Ausdruckskraft. Oder um den
Handelswert. Derselbe Gegenstand wird aus unterschiedlichen Perspektiven
beschrieben.
Man darf verschiedene Perspektiven nicht vermischen.
Denken wir uns jemanden, der ein Bild zerlegte, um herauszufinden, was es
darstellt. Es geht nie gut, wenn wir Fragen, die sich auf der einen
Beschreibungsebene stellen, auf einer anderen zu beantworten suchen.
Wie beim Gemälde, so auch beim Menschen. Es gibt eine physiologische
Geschichte über den Menschen, zu der auch die Geschichte über das
neurobiologische Geschehen gehört. Daneben gibt es eine psychologische
Geschichte, in der er als eine Person beschrieben wird. Aus dieser
Perspektive wird ihm vieles zugeschrieben, das in der ersten Geschichte
nicht Thema sein kann. Nehmen wir an, jemand zerlegte einen Menschen, um
herauszufinden, was er will, überlegt und entscheidet.
Was bedeutet
das für die Freiheit? Wir gebrauchen die Wörter "frei" und "Freiheit" leicht
und locker und vergessen dabei häufig, dass sie einen Begriff bezeichnen,
der, wie jeder Begriff, zu einer bestimmten Perspektive der Betrachtung
gehört und nur dort einen Sinn ergibt, nämlich derjenigen, aus der heraus
wir uns als Personen sehen.
Das psychologische Profil einer Person
kann sich nur dann verändern, wenn sich ihr neurobiologisches Profil
verändert - wenngleich die neurobiologischen und psychologischen Geschichten
ihrer jeweils eigenen Logik folgen. Das ist keine neue Entdeckung, sondern
ein Gemeinplatz. Jeder, der ein Aspirin nimmt, glaubt daran.
Es kann
so aussehen, als würde diese Abhängigkeit psychologischer Eigenschaften von
neurobiologischen Eigenschaften jede Willensfreiheit im Keim ersticken. Man
kann Ordnung in die Sache bringen, indem man sich die Frage vorlegt: Wie
muss man sich die Freiheit gedacht haben, um von der Hirnforschung
erschreckt werden zu können?
Es könnte einer erschrecken, weil er
gedacht hatte, die Freiheit des Willens müsse darin bestehen, dass der Wille
durch nichts bedingt sei. Gesagt zu bekommen, dass es tausend Dinge im
Gehirn gibt, von denen der Wille abhängt, ist dann ein Schock. Doch einen in
diesem Sinne freien Willen kann sich niemand wünschen, denn er wäre ein
Wille, der niemandem gehörte. Er wäre vollkommen zufällig, unbegründet,
unbelehrbar und unkontrollierbar. Einen solch launischen Willen zu haben
wäre ein Alptraum.
Es könnte einer erschrecken, weil er sich den
Willen als etwas, für das es Bedingungen gibt, aber nicht solche im Gehirn,
sondern psychologische Bedingungen, die aus nicht-physischen Phänomenen zu
bestehen hätten. Der Schock gilt jetzt nicht mehr der Bedingtheit des
Willens überhaupt, sondern seiner materiellen Bedingtheit. Doch es gibt
tausend Belege dafür, dass gilt: Keine psychologische Veränderung ohne
physiologische Veränderung. Wie gesagt: Aspirin.
Schließlich könnte
einer erschrecken, weil die Hirnforschung über Prozesse spricht, die hinter
unserem Rücken vor sich gehen. Nichts an unserer Erfahrung geschieht ohne
physiologischen Hintergrund. Doch niemand kommt auf die Idee, dass dieser
physiologische Hintergrund den Gegenstand all dieser Erfahrungen zu bloßen
Illusionen macht.
Nur dann, wenn sich jemand die Freiheit des
Willens auf so unplausible Weise denkt, kann er sie durch die Enthüllungen
der Hirnforscher bedroht sehen. Und so kommt es zu meiner unverschämten
Diagnose: Was wie eine besonders klarköpfige Feststellung daherkommt, die
die nüchterne Autorität des neuropsychologischen Labors hinter sich hat,
setzt, was ihr Pathos angeht, ein Stück abenteuerliche Metaphysik voraus.
Unser Wille ist frei, wenn er sich unserem Urteil darüber fügt, was zu
wollen richtig ist. Und der Wille ist unfrei, wenn Urteil und Wille
auseinander fallen. Die Unfreiheit zu überwinden und zur Freiheit
zurückzufinden heißt jeweils, Urteilen und Wollen wieder zur Deckung zu
bringen und eine Plastizität des Willens zurückzugewinnen, die in dem
Gedanken Ausdruck findet: Ich würde etwas anderes wollen und tun, wenn ich
anders urteilte. Keine neurobiologischen Befunde können die in diesem Sinne
verstandene Freiheit gefährden.
Aus der bisherigen Geschichte ergibt
sich, dass der Konflikt zwischen Determinismus und Freiheit keiner ist.
Dieser angebliche Konflikt ist nicht mehr als eine mächtige rhetorische
Suggestion, die man außer Kraft setzen muss. Der Kontrast zum Determinismus
ist der Indeterminismus. Und der Kontrast zu Freiheit ist Zwang.
Das
Gehirn kann gar nichts entscheiden, die Idee des Entscheidens hat keinen
logischen Ort in der Rede übers Gehirn. Entscheidungen im eigentlichen Sinne
gibt es nur, wo von Gründen und Überlegen die Rede sein kann.
Diejenige Freiheit, die durch keine Hirnforschung widerlegt werden kann,
reicht für Verantwortung. Wir knüpfen Verantwortung nicht an einen
unbewegten Beweger oder einen nicht-physischen Willen. Wir prüfen, ob jemand
denkend Kontrolle über seinen Willen auszuüben vermochte oder nicht.
Man kann Philosophie als den Versuch beschreiben, sich im Denken zu
orientieren. Philosophen sind die Kartografen unseres Denkens bei den
allgemeinsten Themen. Und die Karte der Freiheit zeigt: Wir brauchen kein
neues Menschenbild, wir müssen das alte nur richtig verstehen.
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